Kristo, was muss ein Stoff mitbringen, dass Du Lust hast, Dich als Autor näher damit beschäftigen zu wollen? Was hat Dich explizit an dem Mythos des Nibelungenliedes gereizt?
Das ist zum größten Teil Intuition. Die letzten Adaptionen, die ich gemacht habe, waren Jugend ohne Gott von Ödön von Horváth und Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll. Bei beiden hat je eine Lektüre gereicht, um den Titel mit dem jeweiligen Theater festzumachen. Wenn ich Prosa adaptiere, ist mir immer wichtig, dass ich die Sprache, den Stil des Textes mag, da ich in meiner Adaption die Originalsätze benutze. Mit Nibelungenleader aktualisiere ich zum zweiten Mal einen mythischen Stoff. Und wie bei Iason arbeite ich mich unter anderem am Helden- und am Männer- und Frauenbild ab.
Wie bei allen Dramen über Halbgötter und Heroen verstecken sich hinter all der archaischen Größe die psychologischen Niederungen, die jeder und jede von uns kennt. Die Spirale aus Schuld lässt niemanden aus. Alle Figuren sind beteiligt daran, dass alles in der maximalen Katastrophe mündet.
Das Nibelungenlied ist die bedeutendste deutsche Heldendichtung des Mittelalters. Die drei wichtigsten vollständigen Handschriften des Nibelungenliedes sind 2009 in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen worden. Der Autor oder die Autoren sind bis heute unbekannt. Was wird in Deiner Bearbeitung verhandelt?
Wir erzählen die Geschichte. Wer macht was warum. Wir verhandeln Liebe, Freundschaft, Macht und Verrat, und parallel dazu werden die Elemente der Erzählung reflektiert: Was ist ein König, was eine Königin? Was ist ein Drache? Was ist Liebe? Einer tut aus den richtigen Gründen das Falsche, eine andere aus den falschen Gründen das Richtige. Das Publikum kommt den sechs Figuren emotional nah, und dennoch bleiben sie einem fremd.
Welche Relevanz siehst Du darin, diese alten Konflikte heute zu erzählen?
Indem wir uns Geschichten erzählen, bestätigen und irritieren wir unsere Selbstbilder. Als Individuen und als Gesellschaft. Eine alte Geschichte zu erzählen, bedeutet, sie als weiterhin zutreffend, relevant und wirkungsmächtig zu billigen. Die großen Stoffe haben uns heute noch immer etwas zu erzählen, weil wir noch immer Täter und Opfer sind, noch immer Eltern und Kinder, Liebende und Leidende. Und dabei ändern sich wichtige Details. Steht Gunther auf Siegfried? Liebt Hagen Kriemhild?
Welchen Figuren kannst Du besonders viel abgewinnen und was machen sie aus?
Besonders spannend finde ich die Ehe von Gunther und Brynhild. Trotz einer Intrige und der einhergehenden Gewalt, die der Ehe vorausgingen, glaube ich, dass die beiden die zehn Jahre ihrer Ehe oder zumindest einen großen Teil dieser zehn Jahre glücklich gewesen sein können, bis die Lüge beziehungsweise ein Teil der Lüge herauskommt. Wir alle begeben uns täglich in Kompromisse, tun Dinge, von denen uns unser Bauchgefühl abrät. Wie viel Glück gibt es im Unglück? Und wie viel Unglück im Glück?
Und ich mag die Entscheidung, Etzel, der ja erst in der letzten Phase der Handlung eingeführt wird, zu einem der Erzähler zu machen. Seine kluge, begehrliche Geduld wird zuletzt belohnt. Er ist der distanzierteste und damit mächtigste der Erzähler.
Welches Anliegen verfolgst Du mit Deiner Theaterarbeit?
Kunst handelt für mich davon, mit uns selbst im Gespräch zu sein. Als Künstler erzeuge ich Kommunikationsmaterial. Der Gedanke, dass eine Schulklasse, eine Familie oder ein Paar aus meinem Stück rausgeht und danach Gedanken und Sätze aus meinem Text benutzt, um über sich selbst zu reden, ist atemberaubend. Kunst ist gut für die Seele. Das Als-Ob, bei dem eine Figur stirbt, ihre Darstellerin aber zum Applaus aufsteht und lächelt, erlaubt uns, Konflikte und schmerzhafte Prozesse zu erleben, ohne selbst zu Schaden zu kommen. Als Publikum üben wir Empathie. Ich glaube daran, dass Kunst erbauen kann. Ganz klassisch: Katharsis als Reinigungsprozess, der uns Kraft gibt. Beziehungsleben und Politik drohen da zu scheitern, wo wir uns drängen lassen, in Schwarz-Weiß-Pattern zu denken: ich, jetzt, hier so, gut vs. der, da, gestern, anders, schlecht. Theater kann dabei helfen aufzuzeigen, dass das alles komplexer ist.